Freitag, 14. Dezember 2012
Leben in der Grauzone
Leben in der Grauzone
Roland war eigentlich kein schlechter Schüler. Er wusste ziemlich viel, was er auch nie jemandem vorenthielt, kurzum, er war ein Besserwisser, ein "Klugscheißer", wie ihn andere nannten. Sein Problem war die Faulheit. Er lernte selten und passte nie wirklich auf, was gesagt wurde - somit verkaufte er sich weit unter Wert.
Nach der Realschule hatte er noch keine Lust zu arbeiten und beschloss, ein Fachabitur zu machen. Die neue Schule war in Ordnung, die Mitschüler nett und mit den Lehrern hatte er kein Problem. Nur daheim wurde alles ein wenig problematisch.
Er war jetzt in einem Alter, in dem man einfach lieber mit seinen Kumpels um die Häuser zog und die Abende nicht daheim bei der Familie verbringt.
In dieser Zeit lernte er viele "Freunde" kennen. Im Grunde waren es aber nur mehr oder auch weniger flüchtige Bekanntschaften, mit denen er sich selbst auf einer Wellenlänge sah. Seine Menschenkenntnis war ja noch nie die Beste. Bald schon wurden sie ihm wichtiger als die Schule, wichtiger als sein Familienleben.
Durch Bekannte lernte er A. kennen. Sie war das, was er damals seine Traumfrau nannte. Sie war witzig, offen und direkt.
Ihr Dasein als Punk und ihr Lebensstil faszinierte ihn, sie sorgte sich um nichts und lebte nur in den Tag hinein. Bald schon nahm er sich Diesen an und vernachlässigte seine Pflichten, für ihn gab es eigentlich nur noch Rechte. Auch Solche, die er eigentlich gar nicht hatte. Er verschrieb sich dem Alkohol.
Ab einem gewissen Punkt ging er nicht mehr zur Schule, und das nachdem er nun schon die 12. Klasse wiederholte. A. hatte keinen guten Einfluss auf ihn, aber "Liebe" macht ja bekanntlich blind und er ging weiterhin vollkommen sorglos von einer Party zur nächsten. Daheim sah man ihn schon so gut wie gar nicht mehr. Als seine Mutter ihm das Taschengeld strich und mehrere große Familienstreits ausbrachen, zog er ganz aus und bei A. ein.
Es ging alles viel zu schnell... sie belog und betrog, er stahl das Geld ihres Vaters und beide fingen an, sich allmählich zu hassen. Wie es kommen musste, warf sie ihn aus der Wohnung. Gut nur, dass er so viele Freunde hatte. Er wohnte mal hier und mal da, schnorrte sich durch, "lieh" sich Geld und strich ein, soviel er nur konnte. Als sein Freund N. ihn vor die Tür setzen wollte, bot sich Roland eine Lösung an.
Es klingelte an der Tür. Roland öffnete und vor ihm stand eine junge Frau, lächelte freundlich und fragte ihn, ob er nicht einem Verein spenden wollte, der Behinderten nütze.Er konnte noch nie den Mund halten und so kam er mit dem Mädchen ins Gespräch. Sie erzählte ihm von der Arbeit, wie einfach sie wäre und was sie tun müsse. Wenn er wollte, könnte sie sofort ihren Chef anrufen und ihn ihm vorstellen, bestimmt wäre das auch etwas für ihn, er hätte so eine offene Art.
Was sollte er also machen? Er war 18, die Schule war abgebrochen, er hatte keine Ausbildung, kein Geld, keine Wohnung - und das klang nach dem idealen Job. Sie telefonierte also.Eine halbe Stunde später trafen sie sich auf der Straße mit T. Er war groß, sah freundlich aus und hatte eine nette Art.
Das überzeugendste Argument allerdings war der große Mercedes, den er direkt vor der Tür geparkt hatte. Das könne Roland auch selbst haben, wenn er sich nur anstrengen würde in diesem Job. Das Eis war damit gebrochen, der Traum der Freiheit entflammte in Roland, einziger Haken war, dass er dafür aus seiner Heimatstadt weggehen musste. "Alles kein Problem, es gibt ja Wochenenden und Urlaub, an denen ich hierher kommen kann.". Das dachte er jedenfalls.
Keine Stunde später fand er sich wieder in einer kleinen Stadt, und hatte seinen Arbeitsvertrag vor sich liegen. Eine Unterschrift und er wäre endlich unabhängig und frei von seinen Geldsorgen. Für ihn war das die Einzige Chance, endlich "auf eigenen Füßen" zu stehen, also las er nicht lang sondern unterzeichnete so schnell er konnte. Das allerdings war der größte Fehler, den er machen konnte. Er wusste es nur noch nicht.T. war weiterhin nett zu ihm, er erzählte ihm, dass es viele nette Kollegen gibt und er eine Wohnung gestellt bekommt. Die müsste er sich allerdings mit ein paar Jungs teilen, wie eine WG eben. Natürlich war das kein Problem, kann ja wirklich lustig werden wenn die Leute entsprechend locker sind.
Die ersten Wochen verliefen ganz gut, er und seine Kameraden wurden jeden Tag in einen Kleinbus gesetzt und in Wohnsiedlungen gefahren. Dort sollten sie nichts weiter tun als bei den Leuten zu klingeln und Werbung für ihr Produkt zu machen. Spenden sammeln für Behinderte, etwas Gutes also und einfach noch dazu. Er selbst sollte bei der Sache richtig gut wegkommen, für jede Unterschrift eine bestimmte Provision zusätzlich zu den rund 500€ Festgehalt monatlich. Dafür, dass er der Neue war und keiner wusste, ob man sich auf ihn verlassen kann, ganz ordentlich. Das System sah allerdings ein wenig anders aus, als man vorher besprochen hatte.
Schrieb er einen Monat lang so viele "Scheine", dass er allein Provisionen in der Höhe von 1000€ bekommen müsste, wurden Diese nicht etwa zum Festgehalt addiert, sondern er sah nur die 1000€. Wenn er allerdings einmal weniger als 500€ schrieb und ein paar Verträge storniert wurden, bekam er sein Festgehalt trotzdem. Das half ihn in einigen Monaten, den Kopf nicht hängen zu lassen. Sein Gehalt bekam er nie vollständig.
Rund ein Drittel davon, meinte T., wird auf ein "Stornokonto" überwiesen. Das sei nur zur Absicherung, damit er sich nicht verschuldete, wenn die Leute ihre Verträge stornierten. In diesem Fall müssten die Kosten vom Mitarbeiter selbst abgedeckt werden, da dieser ja anscheinend schlampig gearbeitet hatte. Für den Falle einer Kündigung würde Roland natürlich nach Ablauf der 3-monatigen Stornierungsfrist des letzten Vertrages all das Geld auf die Hand bekommen, das sich auf diesem Konto befand. Den Rest des Gehaltes sah er auch nie komplett, aber das machte T. nur, um seine Jungs vor "Dummheiten" zu bewahren.
Er wollte nur nicht, dass sie nach der Hälfte des Monats kein Geld mehr hatten und gab ihnen deshalb zweimal die Woche das auf die Hand, was sie zum leben brauchten. Auch half er gerne mal aus, wenn sie knapp bei Kasse waren. Dass das alles nur Vorschüsse waren und irgendwo abgezogen werden, davon erfuhren sie leider erst später.
Am Wochenende gab's sogar soviel, dass man mal wegfahren konnte. Das musste allerdings angekündigt werden, damit die Haushälterin die Kleidung vorher waschen konnte. Man sollte ja gut aussehen für die Familie, darauf legte T. Wert. Merkwürdigerweise bekam man vor seiner Abreise nie all seine Sachen wieder, aber was machte das schon, es waren ja nur 2 Tage. Und außerdem würde man sie am nächsten Sonntag eh wieder vorfinden und zwar sauber und ordentlich aufgeräumt im Schrank.
Eines Tages meinte T., die Gruppe müsste umziehen. Die neuen Wohnungen wären weniger schön und die Haushälterin gäbe es dort auch nicht, aber sie wären ja alt genug und werden selber zurechtkommen. Außerdem gibt es in der neuen Stadt mehr Einwohner und bei denen sitzt das Geld etwas lockerer. Außerdem stand ein Produktwechsel an. Roland sollte nun Telefonverträge verkaufen.Und schon sah er sich in einem 12m² großen, kahlen Zimmer sitzen. 2 Betten, ein Tisch, ein riesiger Schrank und eine nackte Glühbirne an der Decke. Die Korridore waren lang und in jedem Stockwerk befanden sich um die 20 Türen, die zu ebenso nackten Zimmern führten.
Das "romantische" Licht der kalten Neonröhren blendete Tag und Nacht, da die Fenster sehr klein ausfielen und man kaum etwas sah. Ebenso befand sich auf jeder Etage eine sogenannte "Nasszelle". Das war ein großer Raum mit 6 Duschen und 6 Toiletten, die man sich mit ungefähr 30 Kollegen teilen musste. Gut, dass nicht alle zur gleichen Zeit arbeiteten und aufstehen mussten.
Rolands Zimmerkollege S. war ein sehr aufgedrehter Typ. Er hörte laute Musik, konsumierte Kaffee und Bier in Unmengen und schien ein wenig hyperaktiv. Er redete viel Schwachsinn und war ein sehr unangenehmer Kerl. Nicht selten stank das Zimmer morgens, da er Bettnässer war. Auch schrie er Nachts oft laut auf und rauchte wie ein Schornstein. Letzteres störte Roland nicht besonders, er war selbst nicht besser.Bald aber merkte er, dass er noch einen der angenehmsten Mitarbeiter erwischt hatte. Er mochte ihn ja auch einigermaßen, ein Kerl mit dem man mehr oder weniger durch dick und dünn gehen konnte.
Dieses Aufeinander hocken in den engen Etagen machte die Leute fast wahnsinnig, was immer wieder in Prügeleien ausartete.Seit seiner Ankunft vor etwa einem dreiviertel Jahr hatte er viele neue Gesichter gesehen. Einige nahmen ihre Sachen und gingen nach ein paar Wochen wieder, andere hatten zu viel Ärger gemacht und verschwanden einfach so, holten nicht einmal ihren Personalausweis wieder ab ... Er redete viel mit den Anderen, fand aber selten einen wirklich guten Draht. Zu abgeschreckt war er vom Aussehen mancher Drücker.Es dauerte nicht allzu lange, da konnte er anhand ihres Erscheinungsbildes und ihrer Aussagen erkennen, woher und aus welcher Kolonne sie kamen. Erzählte beispielsweise jemand davon, wie viele Knochenbrüche er schon aufgrund seines Versagens erleiden musste, war so gut wie sicher, dass er von der Nordsee kam. Tauchte Einer mit riesigen Zahnlücken und schiefer Nase auf, war es am Wahrscheinlichsten, dass er nicht weit gereist war und direkt aus dem Bundesland kam, in dem Rolands Kolonne sich gerade aufhielt.
Am sichersten konnte man allerdings bei den Kollegen aus dem Schwarzwald sein, sie waren einfach unverkennbar. Nicht selten lief ihm Jemand mit nur einem Ohr und fehlenden Fingern über den Weg.Eines Tages saßen Roland und seine Kollegen im Fernsehraum. Plötzlich kamen W. und D. hereingestürmt und brüllten sich an. W. hätte Geld gestohlen und sollte es nun bereuen, also ging D. auf ihn los. Er schlug zu und trat so fest er nur konnte. W. war ein kräftiger, großer Kerl, ein Russe, D. ein glatzköpfiger Möchtegern-Faschist. Irgendwann wurde es W. zu bunt und er schnappte sich die erstbeste Bierflasche die er sah, stellte seinem Rivalen ein Bein und schlug ihm die Flasche auf den Hinterkopf.
Es war im Grunde nur Notwehr, alle hatten es gesehen. Sobald D. wieder zu sich kam rappelte er sich auf und trommelte seine 3 Gruppenleiter zusammen die bekannt dafür waren, in ihrer Freizeit alles durch die Nasen zu ziehen, was zerbröselt werden konnte. Der Russe hatte sich inzwischen wieder in sein Zimmer zurückgezogen, als er es dann zum Pinkeln verlassen wollte sah er nur kurz die Gesichter seiner Vorgesetzten. Im nächsten Moment zertrümmerten Baseballschläger sein Gebiss und seine Rippen.
Das Problem waren also nicht immer die Chefs, die mussten in manchen Kolonnen gar nicht viel tun, die Mitarbeitet wurden untereinander selbst sehr schnell aggressiv und regelten das auf ihre Art.Rolands größte Sorge jedoch waren die Stornos. Er hatte in letzter Zeit stark nachgelassen und immer mehr Leute stornierten ihre Verträge. T. hatte die Daumenschrauben außerdem fester angezogen und wurde immer ungemütlicher, seit sie in die Platte gezogen waren. Hintenrum erfuhr Roland, dass T. in Wirklichkeit am Ende war und bald "abdanken" würde.
Das könnte vielleicht seine Chance sein...
In ein paar Wochen wird Roland mit seiner Kolonne in eine neue Stadt ziehen müssen. Er wird ein Mädchen kennenlernen, die genauso dringend aussteigen will wie er, sogar eine eigene Wohnung besitzt sie schon. Sie werden sich verlieben.Sein neuer Chef wird ein Vollidiot sein, der den ganzen Tag koksend im Büro sitzt während "seine" Drücker in der Eiseskälte schuften und im Vollrausch wird er seinen Untergebenen erzählen, wie viel Geld er womit verdient und was er damit anstellt. Roland wird mit der Zeit so wenig Geld verdienen, dass sein Kühlschrank über Wochen leer bleibt. Genauso leer wie sein Magen. Er wird abmagern und kränker aussehen als je zuvor.
Aber sein Hirn wird weiterarbeiten. Er wird feststellen, dass es ein Leichtes ist, seine Kollegen zu manipulieren, schließlich war er nicht auf den Kopf gefallen und hatte gelernt, anderen Menschen Dinge einzureden. Sie werden für ihn ins Büro des Chefs einbrechen und wichtige Dokumente stehlen, die mehr als ausreichend sind, diesen Mann für lange Zeit hinter Gitter zu bringen. Er wird ihn damit erpressen.Roland und K. werden zusammenziehen, er wird eine befristete Arbeit finden, die die Beiden vorerst über die Runden bringt. Er und seine Familie söhnen sich aus und bekommen ein besseres Verhältnis zueinander als je zuvor. Ein paar unangenehme Hausbesuche von Schlägern werden die Beiden noch über sich ergehen lassen müssen, aber sie werden es schaffen.Bis es soweit ist, wird er aber noch an einigen Haustüren klingeln müssen und durch die Kälte laufen, mit leerem Magen und einem rauchenden Kopf.
Er ahnt von all dem noch nichts, aber es wird passieren.
Anmerkung der Autorin:
Der Mensch, dessen Geschichte ich hier erzähle, ist mit mir blutsverwandt. Ich habe sie mit seinem Einverständnis und seiner Hilfe geschrieben, der Name ist geändert, die Schilderungen sind wahr, auch der Zukunftsausblick von Roland. Vor Kurzem hat er den Ausstieg geschafft und lebt nun relativ sorgenfrei.An manchen Stellen habe ich etwas weggelassen, da es zu privat wurde oder zum besseren Verständnis ein paar Sachen "dazu gedichtet". Vielen Dank für's Lesen, ich hoffe, es hat den Unwissenden ein wenig Klarheit verschafft.
Trude - #1 - 15.12.2012 16:42 - (Antwort)
Ach Mari, was hast du damit nur ausgelöst....mit dem Post letztens!? Was bin ich froh, meine Tochter in soeiner schlimmer Situation nicht haben zu müssen. Bei uns lief es eigentlich unaufgeregt ab, zum Glück, zum ganz großen Glück. Möchte nicht mit den Eltern (Mutter) tauschen wollen und habe schon so manche Stunde darüber nachgedacht. Uffz. Lässt die eigentlich besinnliche Zeit vorm Fest nicht besinnlich wirken. Gut dass es gut ausgeht.....jedenfalls hier bei dir im Schreiben. Winke von der nachdenklichen Ute aus DD. PS: da sind mir Mondbilder aber lieber *zwinker*. Schönen Advent dir und deiner Family.
sue - #1.1 - 16.12.2012 10:38 - (Antwort)
Hallo Trude, manchmal rührt jemand aus Versehen dran. Normal. Dieser Text wurde im Rahmen eines Schlulprojektes von einer damals 17-jährigen geschrieben, hinterließ betroffene Gesichter und löste eine heftige Diskussion aus. Man findet sich leider manchmal vollkommen unerwartet in Situationen, die man sich nie vorgestellt hätte, ist machtlos und verdammt allein (die 'Eltern' gabs nicht, ein Elternteil lehnte sich hämisch grinsend zurück, als telefonisch um Hilfe gebeten wurde). Es endete wie beschrieben 2006/2007 irgendwo bei Dir in der Stadt, heute leben alle Beteiligten wieder halbwegs normal und es ist nur mehr ein finsterer Schatten. Kopf hoch, das Leben geht zum Glück weiter auch nach solchen Geschichten. Eine schöne Weihnachtszeit noch :)
Kommentare